Frist versäumt – Antrag trotzdem wirksam stellen


War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Das Verschulden eines Vertreters ist wie eigenes Verschulden zu berücksichtigen (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB X).

Gesetzliche Fristen

Die Vorschrift ist nur auf gesetzliche Fristen anwendbar. Dabei wird nicht zwischen verfahrensrechtlichen und materiellen Fristen differenziert. Demnach wird Wiedereinsetzung auch gewährt, wenn sogenannte Ausschlussfristen des materiellen Sozialrechts versäumt wurden. § 27 SGB X setzt damit das Interesse des Betroffenen bei schuldloser Fristversäumnis über das mit der Fristnorm verbundene Interesse des Gesetzgebers.

Ausnahmen von der Wiedereinsetzung

Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass die Wiedereinsetzung ausgeschlossen ist (vgl. § 27 Abs. 5 SGB X).  Ein solcher Ausschluss kann vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet werden und sollte schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Allgemeinen in dieser Form erfolgen, zumal wenn es sich um Fristen handelt, die erst nach dem Inkrafttreten des § 27 SGB X neu vorgeschrieben werden. Fehlt eine ausdrückliche Regelung, was namentlich in älteren Gesetzen die Regel ist, dann muss durch Auslegung von Ziel und Zweck der jeweiligen Fristbestimmung und der ihr zugrunde liegenden Interessenabwägung ermittelt werden, ob für die betreffende Frist eine Wiedereinsetzung schlechthin ausgeschlossen ist.

Unverschuldetes Fristversäumnis

Wiedereinsetzung setzt ein unverschuldetes Fristversäumnis voraus . Einen Beteiligten trifft kein Verschulden, wenn er die Sorgfalt angewendet hat, die einem im Verwaltungsverfahren gewissenhaft Handelnden nach den gesamten Umständen vernünftigerweise zuzumuten ist. Zu diesen Sorgfaltspflichten gehört es, dass ein rechtsunkundiger Beteiligter sich bei einem Rechtskundigen Rat holt.

Von einem unverschuldeten Fristversäumnis ist stets dann auszugehen, wenn die Ursache für das Fristversäumnis beim Adressaten des Antrags liegt. Denkbar ist das Verschulden eines Sozialversicherungsträgers bei der Verletzung von Nebenpflichten aus dem Sozialrechtsverhältnis, insbesondere zur Beratung der Versicherten.  Unverschuldet ist eine Fristversäumnis nach herrschender Rechtsauffassung auch dann, wenn sich der Antragsteller auf normale Laufzeiten von Postsendungen verlassen hat, wobei allenfalls geringe, jedoch nicht außergewöhnliche Verzögerungen eingerechnet werden müssen.

Beispiele

Vom Verschulden eines Beteiligten ist in folgenden Fällen auszugehen:

  • Absehen von der Fristwahrung wegen unrichtiger Beurteilung der Erfolgsaussichten (Motivirrtum);
  • Vergessen der Frist ohne ersichtlichen Grund;
  • der Beteiligte besitzt keinen Briefkasten, verweigert die Annahme oder nimmt nicht Kenntnis von einem Schriftstück;
  • mangelnde Vorkehrungen bei längerer Abwesenheit von der Wohnung;
  • Fehladressierung eines Schriftstücks ohne ersichtlichen Grund oder mangelnde Frankierung des Briefs;
  • Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt bei Auswahl von Hilfspersonen;
  • Nichtübersetzung eines Schriftstücks bei Ausländern.

Es liegt kein Verschulden eines Beteiligten vor:

  • Vergessen der Frist wegen einer schweren Krankheit oder eines schweren Verkehrsunfalls;
  • Irrtum über die Frist wegen unklarer Rechtsbehelfsbelehrung;
  • keine Vorkehrungen bei kurzer Abwesenheit von der Wohnung (z. B. wegen Urlaubs bis zu 6 Wochen);
  • volle Ausnutzung der Frist;
  • Verzögerungen in der Postbeförderung;
  • Verschulden nicht vertretungsberechtigter und sorgfältig ausgewählter Hilfspersonen (z. B. bei der Überbringung eines Schriftstücks);
  • Erkrankung kurz vor Fristablauf;
  • Sprachschwierigkeiten eines Ausländers in Ausnahmefällen;
  • Mittellosigkeit zur Rechtsverfolgung.

Vom Verschulden eines bevollmächtigten Rechtsanwalts und ihm Gleichgestellter ist auszugehen:

  • genereller Rechtsirrtum;
  • keine Führung eines Fristenkalenders und keine Ausgangskontrolle für Frist wahrende Schriftsätze;
  • mangelnde Beratung des Beteiligten und Abstimmung mit diesem;
  • Unterlassung einer vorsorglichen Vornahme von Verfahrenshandlungen;
  • Fehler in der Büroorganisation;
  • Verletzung der Sorgfaltspflicht bei Auswahl, Belehrung und Überwachung des Personals.

Es liegt kein Verschulden eines bevollmächtigten Rechtsanwalts oder ihm Gleichgestellter vor:

  • Fehlen einer notwendigen Mitwirkung des Beteiligten trotz Belehrung;
  • Fehler des Personals trotz sorgfältiger Auswahl, Belehrung und Überwachung;
  • Rechtsirrtum bei irreführender Veröffentlichung einer höchstrichterlichen Entscheidung;
  • Verzögerungen in der Postbeförderung.

Antrag auf Wiedereinsetzung

Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist innerhalb von zwei Wochen nach dem Wegfall des Hinderungstatbestandes zu stellen (vgl. § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Die entsprechenden Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen (vgl. § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Innerhalb desselben Zeitraums ist der versäumte Antrag nachzuholen (vgl. § 27 Abs. 2 Satz 3 SGB X).

Wiedereinsetzung ist auch ohne einen Antrag auf Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn der versäumte Antrag innerhalb der Zweiwochenfrist gestellt wird (vgl. § 27 Abs. 2 Satz 4 SGB X). Im Ergebnis können der Antrag auf Wiedereinsetzung und der versäumte Antrag miteinander verbunden werden. Ein Sozialversicherungsträger hat in jedem Fall bei einem verspäteten Antrag die Wiedereinsetzung zu prüfen. Dabei wird Ermessen eingeräumt, das auf jeden Fall wahrzunehmen ist.

Entscheidung über den Antrag

Der Bescheid über einen wegen Fristversäumnisses abgelehnten Antrag muss sich in seiner Begründung  auch mit den Gründen für eine nicht gewährte Wiedereinsetzung auseinandersetzen.

Die Entscheidung über die Wiedereinsetzung oder die Ablehnung des Antrags ist ein Verwaltungsakt. Dabei kann die Entscheidung über die Wiedereinsetzung regelmäßig mit einer Entscheidung über die materielle Rechtslage im Zusammenhang mit der versäumten Frist verbunden werden.

Ausschluss der Wiedereinsetzung

Die Wiedereinsetzung ist ausgeschlossen, wenn seit dem Ende der versäumten Frist ein Jahr verstrichen ist (vgl. § 27 Abs. 3 SGB X). Der Ausschluss greift nicht in Fällen höherer Gewalt.

Unter höherer Gewalt wird nicht nur wie im Haftungsrecht ein von außen kommendes nicht beeinflussbares Ereignis (Krieg, Naturkatastrophe, Reaktorunfall, Epidemie o.ä), sondern jedes Geschehen verstanden, das auch durch die größtmögliche, von dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte.  Unabwendbar in diesem Sinne ist die Fristversäumnis, wenn sie durch eine falsche oder irreführende Auskunft oder Belehrung oder sonst durch ein rechts- oder treuwidriges Verhalten des Sozialversicherungsträgers verursacht wird.

Bild: Michael Mertes (Aristillus) / pixelio