BSG, Urteil vom 7.7.2011, B 14 AS 144/10 R
Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, ist dieser anzuhören. Ein Verwaltungsakt ist rechtswidrig und aufhebbar, wenn er ohne die erforderliche Anhörung erlassen wird. Der Verfahrensfehler kann allerdings bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz geheilt werden und ist dann unbeachtlich. Die Anhörung wird in einem eigenständigen Verwaltungsverfahren nachgeholt.
Rechtsgrundlage
Die Anhörung Beteiligter im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren der Sozialversicherungsträger ist in § 24 SGB X geregelt. Sie entspricht dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Der Beteiligte wird damit vor überraschenden Eingriffen geschützt (BSG, Urteil vom 9.11.2010, B 4 AS 37/09 R). Damit haben Sozialleistungsberechtigte die Möglichkeit, bereits im Vorfeld auf die Verwaltungsentscheidung einzuwirken und sich Klarheit über die Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Klage zu verschaffen.
Die Anhörung ist als Beteiligtenrecht im Verwaltungsverfahren gestaltet, auf das ein Rechtsanspruch besteht. Ein Ermessensspielraum steht dem Sozialversicherungsträger nicht zu. Er kann nur aus den in § 24 Abs. 2 SGB X enumerativ aufgeführten Gründen von einer Anhörung absehen. Ein Verwaltungsakt, der ohne erforderliche Anhörung ergeht, ist fehlerhaft bzw. rechtswidrig und damit anfechtbar bzw. aufhebbar. Eine unterlassene Anhörung kann bis zur letzten Tatsacheninstanz eines Gerichtsverfahrens nachgeholt werden. Eine Anhörung muss nicht tatsächlich stattfinden. Es reicht aus, wenn der Sozialversicherungsträger dem Beteiligten Gelegenheit gibt, sich zu äußern.
Voraussetzungen
Innerhalb eines noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens ist ein Beteiligter dieses Verwaltungsverfahrens anzuhören, wenn durch den beabsichtigten Verwaltungsakt in Rechte des Beteiligten eingegriffen werden soll (vgl. § 24 Abs. 1 SGB X). Verwaltungsverfahren in diesem Sinne ist die nach außen wirkende Tätigkeit der Sozialversicherungsträger, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet ist (vgl. § 8 SGB X). Ein Verwaltungsverfahren ist immer dann als eingeleitet anzusehen, wenn der Sozialversicherungsträger beabsichtigt, in einer bestimmten Angelegenheit gegenüber einem Dritten eine Entscheidung zu treffen.
Voraussetzung für die Anhörung eines Beteiligten ist ein beabsichtigter Eingriff in seine Rechte. Eine Anhörung ist also nicht bei jedem belastenden Verwaltungsakt erforderlich. Rechte in diesem Sinne sind die subjektiv-öffentlichen Rechte eines Beteiligten, die ihm durch die Rechtsordnung eingeräumt werden (z. B. Leistungsansprüche). Um einen Eingriff handelt es sich, wenn zum Nachteil des Beteiligten eine vorhandene Rechtsposition verändert oder beseitigt werden soll. Anwendungsfälle sind z. B. die Aufhebung eines Krankengeldanspruchs, wenn die Höchstbezugszeit erreicht wird, die Rückforderung von Leistungen, ein Bescheid über Beitragspflicht oder der Entzug einer Rente.
Die Pflicht des Sozialversicherungsträgers zur Anhörung entfällt, wenn ein Leistungsantrag erstmalig abgelehnt werden soll. Damit wird nicht in bestehende Rechte eingegriffen, sondern nur die Rechtslage festgestellt.
Zeitpunkt der Anhörung
Die Anhörung ist durchzuführen, bevor der Verwaltungsakt erlassen wird. Unterbleibt eine erforderliche Anhörung, ergeht der Verwaltungsakt des Sozialversicherungsträgers rechtswidrig. Die Rechtswidrigkeit kann durch eine zulässigerweise nachgeholte Anhörung nicht beseitigt werden. Der Verfahrensfehler ist allerdings durch die nachgeholte Anhörung geheilt und damit unbeachtlich (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X).
Form der Anhörung
Das Verwaltungsverfahren ist nicht an eine bestimmte Form gebunden (Nichtförmlichkeit) und deshalb einfach und zweckmäßig durchzuführen (vgl. § 9 SGB X). Der Grundsatz der Nichtförmlichkeit ist auch auf die Anhörung anzuwenden, weshalb die Anhörung mündlich oder schriftlich durchgeführt werden kann. Zur Durchführung der Anhörung ist es erforderlich, dass der Sozialversicherungsträger dem Adressaten des beabsichtigten Eingriffs nach Abschluss seiner Sachverhaltsaufklärung und seiner Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens (mindestens) die Haupttatsachen mitteilt, auf die er seinen Eingriff stützen will (BSG, Urteil vom 31.10.2002, B 4 RA 15/01 R). Dazu kann auch der Inhalt von Telefongesprächen gehören. Nur so kann sich der Beteiligte auch zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen äußern (vgl. § 24 Abs. 1 SGB X). Die Haupttatsachen sowie die beabsichtigte Entscheidung können dem Beteiligten schriftlich, mündlich oder durch Einsicht in die Akten zur Kenntnis gegeben werden.
Frist
Eine Fristsetzung für die Anhörung ist nicht erforderlich. Nach dem Ablauf einer angemessenen Wartezeit kann der Sozialversicherungsträger davon ausgehen, dass sich der Beteiligte nicht äußern wird. Entschließt sich der Sozialversicherungsträger, eine Frist zu setzen, hat er eine angemessene Frist zu wählen. Deren Dauer hängt vom Verfahrensgegenstand ab. Fehler bei der Übermittlung der Tatsachen oder eine zu kurze Frist haben die Wirkung einer unterlassenen Anhörung.
Ob eine Frist angemessen ist richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere dem Umfang und der Schwierigkeit des Falles sowie der Sachkunde des Beteiligten. Dabei steht dem Sozialversicherungsträger bei der Bemessung der Anhörungsfrist weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum zu. Vielmehr unterliegt es im Streitfall der vollen Nachprüfbarkeit durch die Gerichte, ob die gesetzte Äußerungsfrist im konkreten Fall angemessen ist.
Die vom Sozialversicherungsträger gesetzte Frist kann im Rahmen einer Ermessensentscheidung verlängert werden (vgl. § 26 Abs. 7 SGB X).
Unterlassene Anhörung
Eine unterlassene oder nicht ordentlich durchgeführte Anhörung führt zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Es fehlt z. B. an einer wirksamen Anhörung, wenn die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen nicht vollständig mitgeteilt werden oder eine unangemessen kurze Frist für die Anhörung gesetzt wird.
Eine einmal eingetretene Rechtswidrigkeit kann nicht mehr beseitigt werden. Die unterlassene oder nicht ordentlich durchgeführte Anhörung macht den Verwaltungsakt des Sozialversicherungsträgers nicht nichtig (vgl. § 40 i. V. m. § 39 Abs. 3 SGB X). Der ohne erforderliche Anhörung erlassene Verwaltungsakt wird deshalb trotz seiner Rechtswidrigkeit wirksam (vgl. § 39 Abs. 1 und 2 SGB X).
Heilen des Verfahrensfehlers
Es besteht die Möglichkeit, den Verfahrensfehler der unterlassenen Anhörung zu heilen, indem die Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X; BSG, Urteil vom 5.2.2008, B 2 U 6/07 R). Das gilt auch dann, wenn der Leistungsträger den Verfahrensfehler rechtsmissbräuchlich, vorsätzlich oder durch Organisationsverschulden begangen hat. Die unterlassene Anhörung kann bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (vgl. § 41 Abs. 2 SGB X). Eine Nachholung im Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht ist nicht möglich.
Verfahren der nachgeholten Anhörung
Die wirksame Nachholung der unterlassenen Anhörung setzt voraus, dass die nach § 24 Abs. 1 SGB X gebotenen Handlungen nachträglich vorgenommen werden (BSG, Urteil vom 31.10.2002, B 4 RA 43/01 R). Dazu gehört,
- die entscheidungserheblichen Haupttatsachen mitzuteilen,
- eine angemessene Frist zur Äußerung gegenüber der Behörde zu setzen,
- die Äußerung des Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen,
- eine weitere Sachverhaltsaufklärung zu prüfen und
- zu entscheiden, ob der Eingriffsakt wie vorgesehen ergehen darf.
Wird die Anhörung während eines Gerichtsverfahrens nachgeholt, ist dazu ein besonderes Verwaltungsverfahren erforderlich, während dessen das Gerichtsverfahren ausgesetzt werden kann (vgl. § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG; BSG, Urteil vom 9.11.2010, B 4 AS 37/09 R).
Falls alle Haupttatsachen bereits in der Begründung des Eingriffsaktes mitgeteilt worden sind, muss diese Handlung nicht wiederholt werden; erforderlich bleibt aber, dem Betroffenen eine angemessene Frist zur Äußerung gegenüber der Behörde zu setzen, welche ggf. eine solche zur Kenntnis nehmen und erkennbar und belegbar bei der Prüfung berücksichtigen muss, ob weitere Sachaufklärung oder eine Abänderung oder Aufhebung des ergangenen Eingriffsaktes zu erfolgen hat. Nur die wirksame Nachholung ist gemäß § 42 Satz 2 SGB X geeignet, die Wirkung eines rechtsvernichtenden Einwandes zu entfalten und die Aufhebung des Verwaltungsakts zu verhindern.
Rechtsfolgen der unterlassenen Anhörung
Form- und Verfahrensfehler führen grundsätzlich nicht zur Aufhebbarkeit des Verwaltungsakts, wenn in der Sache richtig entschieden wurde (vgl. § 42 Satz 1 SGB X). Eine Ausnahme gilt für die unzulässigerweise unterbliebene Anhörung, die nicht wirksam nachgeholt wurde (vgl. § 42 Satz 2 SGB X). Hier handelt es sich um einen gravierenden Verfahrensfehler, der die Aufhebung des Verwaltungsakts rechtfertigt, auch wenn die Sachentscheidung rechtens ist.