Durch den Widerspruch wird der Sozialversicherungsträger zunächst verpflichtet, ein Rechtsbehelfsverfahren einzuleiten. Dieses Verfahren schließt sich als Verwaltungsverfahren besonderer Art an das Ausgangsverfahren an und verfolgt das Ziel, die Ausgangsentscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu untersuchen und ggf. durch eine neue Entscheidung zu ersetzen. Da es sich beim Widerspruchsverfahren um ein Verwaltungsverfahren handelt sind die Vorschriften des SGB X entsprechend anzuwenden (vgl. § 62 SGB X).
Aufschiebende Wirkung
Der Widerspruch zur Einleitung des Vorverfahrens nach dem Sozialgesetzbuch hat grundsätzlich aufschiebende Wirkung hinsichtlich des Vollzugs der Ursprungsentscheidung (Suspensiveffekt; vgl. § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG). Sie erstreckt sich auf alle Verwaltungsakte. Dazu gehören auch solche mit rechtsgestaltender und feststellender Wirkung sowie Verwaltungsakte mit Drittwirkung (vlg. § 86a Abs. 1 Satz 2 SGG). Die aufschiebende Wirkung tritt mit Einlegung des Widerspruchs rückwirkend auf den Zeitpunkt ein, zu dem der angegriffene Bescheid erlassen wurde. Das gilt auch für den unzulässigen oder unbegründeten Widerspruch, da die entsprechende Feststellung erst während des Vorverfahrens getroffen wird. Die aufschiebende Wirkung entfällt, wenn der Widerspruchsbescheid und damit der bestätigte oder modifizierte Ausgangsbescheid seine Unanfechtbarkeit erlangt.
Rechtsmissbrauch
Aufschiebende Wirkung tritt dann nicht ein, wenn der Widerspruchsführer von dem Rechtsbehelf in ersichtlich missbräuchlicher Weise und nur deshalb Gebrauch gemacht hat, um in den Genuss der aufschiebenden Wirkung zu gelangen. Gleiches gilt, wenn der Widerspruch verspätet eingelegt wird und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand offensichtlich nicht möglich ist.
Vollziehbarkeit
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs beeinträchtigt nicht seine Wirksamkeit, sondern setzt nur die Vollziehbarkeit der Entscheidung aus. Damit
- sind alle weiteren Vollstreckungsmaßnahmen unzulässig,
- kann sich nicht auf die rechtsgestaltende Wirkung des Verwaltungsakts berufen werden,
- sind laufende Leistungen weiter zu erbringen,
- kann der Verfügung des Verwaltungsakts entgegen stehendes Verhalten nicht als Ordnungswidrigkeit festgestellt und mit einer Geldbuße geahndet werden.
Wegfall der aufschiebenden Wirkung
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs entfällt
- bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten,
- in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der BA bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen,
- in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen,
- in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist
(vgl. § 86a Abs. 2 SGG). Die sofortige Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts kann jedoch vom Sozialversicherungsträger ganz oder teilweise ausgesetzt werden (vgl. § 86a Abs. 3 SGG); alternativ kann das Sozialgericht eine entsprechende Entscheidung auf Antrag des Widerspruchsführers treffen (vgl. § 86b SGG).
Aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs entfällt bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten. Damit ist die Finanzierungssicherheit des Versicherungsträgers dem Rechtsschutzbedürfnis des Widerspruchsführers vorrangig. Der Sozialversicherungsträger oder dessen Widerspruchsstelle können den gesetzlich angeordneten Ausschluss der aufschiebenden Wirkung kompensieren, indem sie die sofortige Vollziehung der Entscheidung ganz oder teilweise aussetzen (vgl. § 86a Abs. 3 SGG). Das dabei eingeräumte Ermessen reduziert sich, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (vgl. § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG).
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs nach der im vorläufigen Verfahren gebotenen summarischen Überprüfung überwiegend wahrscheinlich ist. Dabei ist ggf. auch eine mögliche Verfassungswidrigkeit der grundlegenden Rechtsnorm zu berücksichtigen. Von einer unbilligen Härte für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen ist auszugehen, wenn durch die sofortige Beitreibung der Abgabe ein über den Entzug des Geldes hinausgehender wirtschaftlicher Schaden droht, der durch eine spätere Erstattung nicht oder nur schwer wieder gutzumachen ist, ohne dass dem ein überwiegendes öffentliches Interesse gegenüber steht.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs entfällt in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der BA bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen. In Angelegenheiten der Sozialversicherung entfällt die aufschiebende Wirkung nur aufgrund einer Anfechtungsklage; der Widerspruch lässt die aufschiebende Wirkung nicht entfallen.
Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage entfällt in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Dazu gehört z. B. die Regelung, dass die Klage gegen eine Entscheidung des Beschwerdeausschusses im Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeit der kassen(zahn)ärztlichen Versorgung keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. § 106 Abs. 5a Satz 9 SGB V).
Anordnung der Vollziehung
Entfällt die aufschiebende Wirkung, weil die sofortige Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts im öffentlichen Interessen liegt, hat der Sozialversicherungsträger oder seine Widerspruchsstelle die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anzuordnen. Bei dieser Entscheidung sind die verschiedenen Interessen abzuwägen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dazu bedarf es einer schlüssigen, konkreten und substanziierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus der Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Beteiligten am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten habe. Dabei können im Einzelfall auch fiskalische Gründe die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht nur materiell rechtfertigen, sondern auch zur Begründung des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung herangezogen werden.
Aussetzen der Vollziehung
Hat der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung, kann entweder der Sozialversicherungsträger oder dessen Widerspruchsstelle die sofortige Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen (vgl. § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG). Das dabei auszuübende Ermessen ist stark eingeschränkt, wenn in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (vgl. § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG).
Der Aussetzungsbescheid kann mit Nebenbestimmungen versehen werden (z. B. Auflage oder Befristung; vgl. § 32 SGB X) sowie geändert oder aufgehoben werden.
Vorläufiger Rechtsschutz
Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag
- in den Fällen aufschiebender Wirkung die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen,
- in den Fällen, in denen ein Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen oder
- in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung durch den Sozialversicherungsträger oder dessen Widerspruchsstelle ganz oder teilweise ausgesetzt wurde, diese ganz oder teilweise wiederherstellen
(vgl. § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG).
Das Gericht wird einen entsprechenden Antrag regelmäßig unverzüglich nach dessen Eingang prüfen und darüber entscheiden. Eine umfassende Prüfung der Erfolgsaussichten sind in diesem Rahmen nicht möglich. Es erscheint deshalb ausreichend, den Antrag summarisch zu prüfen und so eine Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits zu treffen.
Parallel dazu hat eine Interessenabwägung zwischen Vollziehungsinteresse und Verhinderungsinteresse stattzufinden. Ist der Verwaltungsakt bereits vollzogen, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen (vgl. § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG).
Wird Rechtsschutz begehrt, ohne dass ein Vorverfahren durchzuführen ist, kann vorläufiger Rechtsschutz über eine einstweilige Anordnung erlangt werden (vgl. § 86b Abs. 2 SGG). Diese darf nur erlassen werden
- in Bezug auf den Streitgegenstand, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung) oder
- zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (Regelungsanordnung).
Der Inhalt der einstweiligen Anordnung liegt im Ermessen des Gerichts (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 938 ZPO). Dabei kann die Anordnung zeitlich befristet werden oder mit Bedingungen oder Auflagen versehen werden.
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2 Antworten zu “Widerspruch – Die angefochtene Entscheidung darf nicht ausgeführt werden”
Ein hilfreicher Artikel. Allerdings finde ich auch hier -wie im gesamten Internet- nichts über den Fall, dass ein Versicherter die Rückzahlung überzahlter KV-Beiträge beantragt. Dies wird ihm erstinstanzlich zugesprochen; das Verfahren geht aber in die Berufung.
Hat die Berufung aufschiebende Wirkung oder kann der Versicherte aus dem Urteil des SozGer. vollstrecken? Aus § 86a SGG lässt sich das nicht (oder nur schwer) ableiten.
Guten Tag Herr Tänzer, ich arbeite als freier Autor und bin nicht zur Rechtsberatung befugt. Ihre Anfrage kann ich deswegen nicht beantworten.