Sozialleistungen – Unterlassene Mitwirkung gefährdet den Anspruch

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  • Beitrag zuletzt geändert am:2. April 2021
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624347_web_R_K_B_by_Oliver Neumann_pixelio.deBezieher von Sozialleistungen haben die Pflicht, bei der Leistung mitzuwirken. Die Mitwirkungspflichten sind mehrfach begrenzt. Ein Begrenzung ergibt sich zunächst aus den Tatbeständen der §§ 60 bis 64 SGB I, die Mitwirkung nur im Zusammenhang mit Sozialleistungen für genau umrissene Mitwirkungsbereiche vorsehen. Eine weitere Begrenzung stellt § 65 SGB I dar der definiert, wann Mitwirkungspflichten (trotz der gegebenen Voraussetzungen der §§ 60 bis 64 SGB I)

  • nicht bestehen,
  • abgelehnt oder
  • verweigert werden können,

ohne dass damit Folgen für den Leistungsbezieher verbunden sind.

Mitwirkung

§ 65 SGB I enthält Beschränkungen aller in §§ 60 bis 64 SGB I genannten Mitwirkungspflichten. § 65 Abs. 1 SGB I nennt mit der Zumutbarkeit die Grenze, die zur Wahrung der Persönlichkeitssphäre und der körperlichen Integrität des einzelnen erforderlich ist, und stellt klar, dass die in Anspruch genommene Sozialleistung und die Mitwirkung des Berechtigten in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Abs. 2 und 3 enthalten Konkretisierungen von Abs. 1 für Behandlungen und Untersuchungen sowie für Tatsachenangaben einschließlich der im § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I vorgesehenen Zustimmung zu Auskünften Dritter.

Auf die Grenzen der Mitwirkung kann sich der Sozialleistungsberechtige berufen und damit seine Mitwirkung ausschließen, ohne dass Konsequenzen drohen. In keinem Fall kann es genügen, wenn er lediglich eine unsubstanziierte Behauptung aufstellt. DerVersicherte muss hinreichend darlegen, dass die Voraussetzungen für den Ausschluss der Mitwirkung gegeben sind.

Der Beratungsanspruch des Sozialleistungsberechtigten umfasst auch die Beratung über Mitwirkungspflichten und ihre Grenzen und ist ggf. ohne einen entsprechenden Antrag zu befriedigen. Es bestehen keine Mitwirkungspflichten, soweit ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht (vgl. § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I).

Eine der Rechtsquellen der öffentlichen Verwaltung sind die „allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts“, zu denen auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist aus dem rechtsstaatlichen Übermaßverbot abgeleitet und besagt, dass das eingesetzte Mittel zur Zweckerreichung geeignet und erforderlich (notwendig) ist und Mittel und Zweck in einem angemessenen Verhältnis stehen.

Dem trägt § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I für die Mitwirkung der Sozialleistungsberechtigten Rechnung. Mitwirkung ist danach ausgeschlossen, wenn z. B. die Kosten für die Beschaffung einer Urkunde relativ hoch sind, die Sozialleistung dagegen nur einen geringen Wert hat oder das persönliche Erscheinen des Sozialleistungsberechtigten mit einer langen und mühsamen Reise verbunden ist, der Umfang der Sozialleistung jedoch unbedeutend ist.

Keine Mitwirkungspflichten, soweit ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann (vgl. § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I).

Neben dem rechtsstaatlichen Übermaßverbot wirken auch die persönlichen Freiheitsrechte begrenzend auf die Mitwirkungspflichten. Damit wird sichergestellt, dass sowohl die Persönlichkeitsspähre als auch die körperliche Integrität des Sozialleistungsberechtigten gewahrt bleiben.

Die unbestimmten Rechtsbegriffe der Zumutbarkeit und des wichtigen Grundes sind individuell unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles auszulegen. Die Beurteilung der Zumutbarkeit durch die Krankenkasse ist in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar. Für die Praxis empfiehlt sich, Fallgruppen zu bilden und danach Beurteilungsmaßstäbe aufzustellen, die die unbestimmten Rechtsbegriffe handhabbar machen.

Der wichtige Grund wird im persönlichen Bereich des Sozialleistungsberechtigten angesiedelt sein und kann körperlicher, seelischer, geistiger, familiärer oder sozialer Art sein.

Keine Mitwirkung, soweit sich der Sozialversicherungsträger durch einen geringeren Aufwand als der Sozialleistungsberechtigte die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann (vgl. § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I).

Der Sozialversicherungsträger unterliegt dem Amtsermittlungsgrundsatz und hat in diesem Zusammenhang entscheidungserhebliche Tatsachen zu ermitteln. Der Sozialleistungsberechtigte hat dabei mitzuwirken und alle ihm bekannten Tatsachen anzugeben sowie ggf. persönlich zu erscheinen. Das darf aber nicht zu einer überflüssigen Belastung des Sozialleistungsberechtigten durch Aufwand an Zeit, Geld und Mühe führen, wenn sich der Sozialversicherungsträger die erforderlichen Kenntnisse mit geringerem Aufwand verschaffen kann.

Da individuell zu prüfen ist, kann durch diese Regelung insbesondere den Belangen älterer und behinderter Mitbürger sowie von „Randgruppen“ Rechnung getragen werden.

Behandlungen und Untersuchungen, bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht ausgeschlossen werden kann, können abgelehnt werden (vgl. § 65 Abs. 2 Nr. 1 SGB I).

Untersuchungen und Heilbehandlungen können nach dieser Regelung im Einzelfall abgelehnt werden. Erforderlich ist ein Schaden für Leben oder Gesundheit, der mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird.

Behandlungen und Untersuchungen, die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind, können abgelehnt werden (vgl. § 65 Abs. 2 Nr. 2 SGB I).

Die Regelung stellt auf erhebliche Schmerzen ab und geht davon aus, dass ein gewisses Maß an Schmerzen durchaus hingenommen werden muss. Die Beurteilung geht vom individuellen Schmerzempfinden des Sozialleistungsberechtigten aus und berücksichtigt Dauer und Intensität des Schmerzes.

Behandlungen und Untersuchungen, die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, können abgelehnt werden (vgl. § 65 Abs. 2 Nr. 3 SGB I).

Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeutet eine willentliche Veränderung des durch Anlage und natürliche Entwicklung bedingten Körperzustands. Ob der Eingriff erheblich ist, richtet sich nach den individuellen Gegebenheiten. Bei der Beurteilung ist neben den beeinträchtigenden Folgen des Eingriffs auch dessen Nutzen zu betrachten. Ein typisches Beispiel für einen erheblichen Eingriff stellt die Entnahme von Rückenmarkflüssigkeit (Lumbalpunktion) dar.

Angaben, die dem Sozialleistungsberechtigten oder ihm nahestehenden Personen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden, können verweigert werden (vgl. § 65 Abs. 3 SGB I).

Vom Wortlaut her gilt die Vorschrift nur für Angaben i. S. von § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB I. Die Regelung muss aber auch auf die Zustimmung zur Erteilung von Auskünften sowie die Bezeichnung von Beweismitteln und die Vorlage von Beweisurkunden übertragen werden.

Relevant ist die Verfolgungsgefahr für den Sozialleistungsberechtigten und bestimmte Angehörige. Dabei wird auf § 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ZPO verwiesen. Nach dieser Vorschrift sind

  • der Verlobte,
  • der Ehegatte, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht,
  • der Lebenspartner, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht,
  • diejenigen, die mit dem Sozialleistungsberechtigten in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert sind oder waren,

zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt.

Folgen fehlender Mitwirkung

§ 66 SGB I regelt die Sanktionen für eine Verletzung der Mitwirkungspflichten des Antragstellers oder Leistungsberechtigten. Er beruht auf dem Grundsatz der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit sowie der Kausalität zwischen der Verletzung von Mitwirkungspflichten und den daran anknüpfenden Einschränkungen von Sozialleistungen.

Absatz 1 betrifft die Fälle, in denen die an sich mögliche Sachaufklärung durch pflichtwidriges Verhalten des Antragstellers oder Leistungsberechtigten verzögert oder verhindert wird. Der zuständige Leistungsträger erhält die Befugnis, in solchen Fällen von eigenen Ermittlungen abzusehen und nach schriftlichem Hinweis auf die Folgen den Antrag auf Sozialleistungen abzulehnen oder eine bewilligte Leistung ganz oder teilweise zu entziehen. Die Grundsätze über die Anforderungen an den Umfang des Beweises und über die objektive Beweislast bleiben unberührt.

Während Absatz 1 die Verletzung von Verfahrenspflichten sanktioniert, regelt Absatz 2, was zu geschehen hat, wenn der Antragsteller oder Leistungsberechtigte infolge pflichtwidrigen Verhaltens mehr Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann oder muss, als bei pflichtgemäßem Verhalten zu erwarten gewesen wäre. In Übereinstimmung mit den Vorschriften des geltenden Rechts geht die Regelung davon aus, dass die Folgen pflichtwidrigen Verhaltens nicht nur von der Gemeinschaft, sondern auch vom Antragsteller oder Leistungsberechtigten getragen werden müssen.

Ermessen

Eine Versagung oder Entziehung von Sozialleistungen ist nur unter den strengen Voraussetzungen des § 66 SGB I zulässig. Selbst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Leistungsträger einen Ermessensspielraum, um besonderen und nicht voraussehbaren Umständen des Einzelfalles gerecht werden zu können.

Obliegenheit

Die Mitwirkungspflichten der Sozialleistungsberechtigten sind keine echten Pflichten sondern werden besser „Obliegenheiten“ genannt, da die Mitwirkung nicht erzwungen werden kann. Insbesondere hat der Sozialversicherungsträger keinen durchsetzbaren Anspruch bzw. einen Schadenersatzanspruch bei Nichtbeachtung. Konsequenz ist lediglich der Verlust des Anspruchs auf Sozialleistungen, der vom Gesetz als „Folgen fehlender Mitwirkung“ bezeichnet wird.

Voraussetzungen

Die Folgen treten ein, wenn auf Grund der fehlenden Mitwirkung die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert oder mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass deshalb u. a. die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird. Die Herleitung der Folgen fehlender Mitwirkung liegt im Ermessen des Sozialversicherungsträgers.

Dieser hat die Möglichkeit, Leistungen ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen. Leistungen werden versagt, wenn ein Verwaltungsakt über den Leistungsanspruch noch nicht erlassen wurde. Der Entzug ist erforderlich, wenn die Leistung bereits bezogen wird. Ob der Sozialversicherungsträger die Leistung ganz oder teilweise versagt oder entzieht ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beurteilen und von der Schwere und Dauer des Verstoßes gegen die Mitwirkungspflichten abhängig. Dabei ist auch eine zeitliche Befristung der Maßnahme denkbar, ggf. mehrfach hintereinander.

Der Sozialleistungsträger versagt oder entzieht die Leistung, bis der Sozialleistungsberechtigte die Mitwirkung nachgeholt hat.

Schriftlicher Hinweis

Die Sanktionen dürfen nur hergeleitet werden, wenn der Sozialleistungsberechtigte zuvor schriftlich auf die Folgen hingewiesen und für die Mitwirkung eine angemessene Frist gesetzt wurde. Der Hinweis muss, insbesondere wegen der einschneidenden Rechtsfolgen, die nötige Bestimmtheit aufweisen. Ein schriftlicher Hinweis unter Wiedergabe des Gesetzestextes ist nicht ausreichend, weil er nicht unmissverständlich und konkret die Entscheidung bezeichnet, die im Einzelfall beabsichtigt ist.

Der schriftliche Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung erfolgt als schlichtes Verwaltungshandeln , da es dem bloßen Hinweis am Regelungscharakter fehlt. Der Hinweis kann aber auch Bestandteil des Verwaltungsakts sein, durch den die Mitwirkungspflichten hergeleitet werden. In diesem Fall dürfte es sich um eine Nebenbestimmung in Form einer Bedingung handeln, bei deren Eintritt die Verfügung der Folgen fehlender Mitwirkung wirksam wird.

Verwaltungsakt

Die Sanktionen auf Grund fehlender Mitwirkung erfordern ebenfalls einen Verwaltungsakt. Dabei handelt es sich nicht um einen Aufhebungsbescheid über den Leistungsanspruch. Die Wirksamkeit des Verwaltungsakts über den Leistungsanspruch bleibt unberührt. Vielmehr hat der Bescheid über die Folgen fehlender Mitwirkung „suspendierende“ Wirkung hinsichtlich des Bescheides über den Leistungsanspruch. Wirkt der Sozialleistungsberechtigte mit oder wird die Mitwirkung nachgeholt, fällt der suspendierende Effekt weg und der ursprüngliche Bescheid über den Leistungsanspruch kann weiterhin vollzogen werden.

Nachholen der Mitwirkung

Hat der Sozialleistungsträger durch einen Verwaltungsakt Leistungen versagt oder entzogen, wirkt der entsprechende Verwaltungsakt bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Sozialleistungsberechtigte die Mitwirkung nachholt. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, versagte oder entzogene Sozialleistungen auch für die Vergangenheit ganz oder teilweise zu erbringen. Die Entscheidung darüber ist eine Ermessensentscheidung, bei der auch die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten ist. Voraussetzung ist, dass die Leistungsvoraussetzungen vorgelegen haben.

Die Vorschrift gilt sinngemäß auch, wenn die Mitwirkungspflicht entfallen ist, weil sich z. B. für die Leistungsgewährung erhebliche Umstände auf andere Weise geklärt haben oder die Mitwirkung unmöglich geworden ist.

Foto: Oliver Neumann  / pixelio.de

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Anarchrist

    Auch hier konnte ich nicht finden wonach ich suchte.

    Seit einer gefuehlten halben Ewigkeit versuche ich zu ermitteln, was ganz konkret „fuer die Leistung erheblich“ ist.

    Mein Sachbearbeiter fordert u.a.
    „Lebenslauf, Schulbescheinigungen/zeugnisse“
    „lesbare Kopie der Krankenversicherungskarte“
    „eine schriftl. Erklaerung, von welchen Geldmitteln ich i.d. letzten 6 Monaten gelebt habe“

    „fuer die weitere Bearbeitung“ meines Leistungsantrags.

    Danke trotzdem

    1. Toni

      Mist, viel Glück. Ps: mit einem „ich kann, fängt alles an. Mit einem ich will führt es zum Ziel.“

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