Der Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte der Sozialversicherungsträger erfordert grundsätzlich, vor einer Klage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen (vgl. § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG). Es handelt sich um ein (außergerichtliches) Verwaltungsverfahren besonderer Art, auf das nicht die Vorschriften über das gerichtliche Verfahren anzuwenden sind. Dabei hat der Betroffene u. a. zu beachten, den Widerspruch fristgerecht zu erheben.
Sinn und Zweck des Vorverfahrens sind,
- dem Betroffenen eine schnelle und kostengünstige Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung zu stellen,
- die Gerichte zu entlasten und
- den Sozialversicherungsträgern vor einer gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungsakts eine umfassende Überprüfung ihrer Entscheidung zu ermöglichen.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Wurde die Widerspruchsfrist versäumt, ist durch den Sozialversicherungsträger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu prüfen (vgl. § 67 SGG). Die Wiedereinsetzung ist auf Antrag zu gewähren, wenn der Widerspruchsführer ohne Verschulden verhindert war, die Widerspruchsfrist einzuhalten.
Das Fristversäumnis gilt u. a. dann als nicht verschuldet, wenn die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt worden ist, weil die erforderliche Begründung fehlt oder die erforderliche Anhörung eines Beteiligten vor Erlass des Verwaltungsakts unterblieben ist (vgl. § 41 Abs. 3 SGB X).
Antrag
Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist binnen eines Monats nach dem Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb dieser Frist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden. Ist dieses geschehen, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.
Der Sozialversicherungsträger hat somit aufgrund eines verspätet eingelegten Widerspruchs die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung zu prüfen, ohne dass es eines ausdrücklichen Antrags auf Wiedereinsetzung bedarf.
Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist ist der Antrag unzulässig, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.
Verschulden
Ein Verschulden liegt grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Widerspruchsführer im Rechtsverkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen ist. Der Beteiligte muss sich das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen.
Ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ein Beteiligter auch, wenn
- ein Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für die Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist, oder
- das Verschulden dem Beteiligten nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre.
Danach ist zu berücksichtigen, dass es für die Vorwerfbarkeit der Fristversäumnis auch auf die persönlichen Verhältnisse, insbesondere Bildungsgrad und Rechtserfahrung, ankommt und insoweit die besondere Situation der Beteiligten im Widerspruchsverfahren in Betracht zu ziehen ist.
Grenzen
Dass die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht überspannt werden dürfen und insoweit einem Beteiligten nicht jedes Verschulden zurechenbar ist, folgt auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Anspruch auf ein faires Verfahren. Nach diesem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden „allgemeinen Prozessgrundrecht“ darf sich das Gericht nicht widersprüchlich verhalten, darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet.
Die daraus resultierende Hinweispflicht soll vermeiden, dass Beteiligte an unbeabsichtigten Formfehlern scheitern. Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Sozialversicherungsträgers bei Wahrnehmung seiner Beratungspflicht liegen.
Beweisführung
Der Widerspruchsführer „soll“ die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft machen. Glaubhaftmachung bedeutet, dass nicht die beim „Vollbeweis“ geforderte an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss, sondern dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht. Der Sozialversicherungsträger bleibt daneben verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (Amtsermittlungsgrundsatz; vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB X).
Entscheidung
Die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung der Wiedereinsetzung ist ein Verwaltungsakt. Dabei kann die Entscheidung über die Wiedereinsetzung mit der Entscheidung über den Widerspruch verbunden werden.
Es kann auch sinnvoll sein, über die Wiedereinsetzung separat zu entscheiden (z. B. wenn nach dem aktuellen Rechts- und Verfahrensstand zum Zeitpunkt er Entscheidung dem Widerspruch – seine Zulässigkeit unterstellt – zumindest teilweise abgeholfen werden würde, weil etwa zwischenzeitlich die Verwaltungspraxis geändert wurde oder eine anderslautende Rechtsprechung zu berücksichtigen ist).
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